Während ihrer Freizeit sind Arbeitnehmer nicht verpflichtet, Anrufe, SMS und dergleichen ihres Arbeitgebers entgegenzunehmen
Das LAG Schleswig-Holstein hat mit einer Entscheidung vom 27.09.2022 (AZ.: 1 Sa 39 öD/22) das Recht auf Nichterreichbarkeit von Arbeitnehmern gestärkt. Die Urteilsbegründung wurde im Januar 2023 veröffentlicht. Im Kern ging es bei dem Rechtsstreit um die Handhabung von kurzfristigen Dienstplanänderungen.
Die Arbeitszeit des Klägers, eines Notfallsanitäters, richtet sich grundsätzlich nach einem mittelfristig festgelegten Schichtplan. Abweichend von diesem Plan können Sanitäter nach einer auf dem Betriebsverfassungsgesetz basierenden Betriebsvereinbarung (etwa bei Krankheitsausfällen von Kollegen) zu Springerdiensten verpflichtet werden. Der Arbeitgeber hat die betreffenden Sanitäter jedoch spätestens am Vortag bis 20:00 Uhr über den Springereinsatz zu informieren. Der so aktualisierte Dienstplan ist von den Mitarbeitern im Internet einzusehen.
In zwei Fällen war der Sanitäter vom Arbeitgeber zur Mitteilung eines vorgesehenen Springereinsatzes nicht erreichbar gewesen, weder telefonisch noch per SMS oder E-Mail. Er meldete sich am nächsten Tag entsprechend des ihm aus dem ursprünglichen Schichtplan bekannten Zeitpunktes zum Dienstantritt. Der Arbeitgeber wertete sein Verhalten jedoch als unentschuldigte Arbeitsversäumnis. In einem der Fälle habe man umdisponiert, einen anderen Kollegen für den Springereinsatz bestimmt. Folglich wurde der Arbeitseinsatz des „säumigen“ Mitarbeiters an diesem Tag nicht mehr benötigt.
Die entsprechenden Arbeitsstunden wurden dem Sanitäter vom Arbeitszeitkonto abgezogen. Im ersten Fall erhielt der Sanitäter eine schriftliche Ermahnung, im zweiten Fall eine reguläre Abmahnung. Nach Auffassung des Arbeitgebers gehöre es zur Treuepflicht eines Arbeitnehmers (als Nebenpflicht zum Arbeitsvertrag nach §§ 611 ff. BGB), sich in der Freizeit nach Dienstzeiten zu erkundigen. Der Notfallsanitäter erhob Klage vor dem Arbeitsgericht mit dem Ziel, ihm die abgezogenen Arbeitsstunden wieder gutzuschreiben sowie die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen. Das Arbeitsgericht wies die Klage jedoch zurück. Auf Basis der Betriebsvereinbarung habe der Rettungsdienst korrekt gehandelt. Im Berufungsverfahren vor dem LAG Schleswig-Holstein hatte der Kläger Erfolg.
Das LAG stellte fest: Beschäftigte müssen berufliche Nachrichten während ihrer Freizeit nicht lesen. Das Lesen von dienstlichen SMS, E-Mails oder die Entgegennahme von Anrufen sei Arbeitszeit, auch wenn sie nur minimalen Aufwand ausmache. Der Kläger verhalte sich nicht treuwidrig, wenn er darauf bestehe, in seiner Freizeit keiner dienstlichen Tätigkeit nachzugehen. Er lehne die Entgegennahme der Weisung des beklagten Arbeitgebers nicht grundlos ab. Vielmehr verhalte sich der Arbeitgeber widersprüchlich, wenn er einerseits dem Kläger Freizeit gewähre und von ihm andererseits verlange, Arbeitsleistungen zu erbringen. Die vom Arbeitgeber angenommene Nebenpflicht, sich in der Freizeit nach Dienstzeiten zu erkundigen, bestehe nicht.
Schließlich bemerkte das LAG: Das Recht auf Nichterreichbarkeit diene neben dem Gesundheitsschutz auch dem Persönlichkeitsschutz: „Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht“.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Revision ist zugelassen.
Unser Autor:
Gerd Tiedemann, eigenständiges Mitglied im dozenten.team, Regierungsdirektor a.D.(Diplom-Verwaltungswirt); ehem. Ortsamtsleiter (sog. „Stadteilbürgermeister“) Hamburg–Finkenwerder sowie Dezernent Bürgerservice im Bezirksamt Hamburg-Mitte, Dozent bei der dbb akademie und bei Walhalla Seminare mit den Themen Arbeits- und Tarifrecht, Personalvertretungsrecht¸ Kommunikationstechniken, Vermittlung mediativer Kompetenzen, Konfliktmanagement, Moderation von Klausurtagungen für Personalräte und Personalverantwortliche .